Wir schreiben das Jahr 1983. Es ist Mitte September, Oberst Stanislav Petrow sitzt in der Kommandozentrale des Raketenwarnsystems „Oko“, rund 90 Kilometer südlich von Moskau. Es ist ein Ort, von dem niemand wissen darf. Auf keiner frei erhältlichen Landkarte eingezeichnet, ist der Stützpunkt umringt von einer geschlossenen Stadt. Es dient alles nur einem Zweck: Der Vorsehung des heiss gefürchteten Erstschlages des US-Militärs.

Die Stimmung ist zu dieser Zeit aufgeheizt. Es droht eine ähnliche Situation, wie 21 Jahre früher in der Schweinebucht in Kuba. Reagan und Andropow, beide erprobte Kampfhunde, senden eine Provokation nach der anderen an die gegnerische Adresse. Die Sowjetunion hält seit beinahe einem Jahrzehnt 400 Atomraketen bereit. Eine ist 50 Mal so stark wie der Sprengkopf Fat Man, der 1945 über dem japanischen Nagasaki abgeworfen wird. Nun sind sie auf die europäischen Metropolen gerichtet. Rom, Paris oder London schauen gebannt nach Russland, hoffen auf eine Deeskalation. Doch die Nato hält sich mit Drohgebärden nicht zurück. Sie befindet sich in der Planung einer zehntägigen Militärübung an der, unter Teilnahme hochrangiger Politiker und Militärs, die atomare Eskalation geprobt wird. Beweis genug für die UdSSR, dass der Erstschlag nur noch eine Frage der Zeit ist.

Der stille Arbeiter.

Zurück zu Petrow: Dieser ist Offizier, aber auch studierter Ingenieur. Militaristischer Patriotismus liegt ihm, trotz seines Berufes, fremd. Interessieren tut sich Petrow insgeheim für den Weltraum, in dem die Satelliten kreisen, die die Zentrale mit Informationen versorgen. Ein stiller Arbeiter, kein Mann der grossen Worte. Da passt es, dass nicht mal seine engsten Verwandten von seinem Beruf wissen.

Es ist kurz vor Mitternacht, als plötzlich das schrille Geräusch der Sirene die sonst so andächtige Ruhe durchbricht. Auf dem 30 Meter durchmessenden Bildschirm prangen die Buchstaben: START. Sofort wird klar, der Erstschlag ist Realität. Alle Augen sind auf Oberst Petrow gerichtet. Er hat das Kommando. Er hat die Entscheidung zu treffen. Tut er nichts, wird er eventuell für die Auslöschung seines eigenen Volkes verantwortlich gemacht. Startet er den Gegenangriff, bedeutete das den Beginn des dritten Weltkriegs. Es ist das Wohl der ganzen Menschheit, dass in diesem Moment auf den Schultern des schmächtigen Mannes lasten. Und an was denkt dieser? An einen Teelöffel. „Niemand löffelt einen Wassereimer mit einem Teelöffel aus“, denkt er sich. Bei einem richtigen Angriff müssten hunderte Raketen gleichzeitig abgeworfen werden, so hatten es ihm seine Vorgesetzten eingetrichtert. Petrow entscheidet auf Fehlalarm. Auch von drei weiteren Alarmmeldungen lässt er sich nicht verunsichern. Petrow entscheidet richtig.

Erst spät geehrt.

Wie sich später herausstellt, wurden die Fehlalarme durch von Wolken reflektiertem Sonnenlicht verursacht. Der zuständige Satellit hatte dieses als Raketen interpretiert. Später wird Petrow sagen: „Meine Kollegen waren alle professionelle Soldaten. Sie waren auf Gehorchen ausgerichtet.“ Ein anderer hätte den ominösen roten Knopf ohne zu zögern gedrückt.

Für seinen Verdienst wird Petrow erst spät geehrt. Zuerst wird er von seinen Chefs getadelt, weil er den Vorfall nicht im Dienstbüchlein festhält, später zur Geheimhaltung verdonnert. 1998 wird die Geschichte endlich publik gemacht. 2004 wurde ihm in New York der „World Citizen Award“ verliehen. Im Mai 2017 stirbt Petrow, einsam, zurückgezogen in seiner kleinen Moskauer Wohnung. Er bleibt ein unbeachteter Held, der die Menschheit vor dem Inferno rettete.

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